Samstag, 5. Februar 2011

erfahrung birgt erkenntnis birgt erfahrung

im itzt der nacht

sie käme gerade aus wien, eröffnete sie ihren vortrag und eine einleitende rede könne kaum einen tieferen eindruck davon vermitteln, aus welcher gefühlten umgebung sie tatsächlich käme, als das dann folgende lied von georg kreisler: „wien ohne wiener“. und so begann in einem einzigen gemeinsamen augenblick ihr vortrag mit musik und ich am ganzen körper zu zittern.
ich musste also den stift aus meinen händen legen, die ihn bis dahin geborgen hatten, wollte ich verhindern, dass jene seismographennadel meine tiefen erschütterungen in diesem moment nach außen hin preisgab. stattdessen hielt ich mich mit beiden händen an dem viel schwereren tisch fest und versuchte ein lächeln. ich lächelte beinahe die gesamten 5 minuten, in denen georg kreisler aus dem laptop heraus sang, den tisch an, angestrengt versuchend, nicht mitzusingen, ruhiger zu atmen und die freude sowie den gleichzeitigen schrecken darüber zu kontrollieren, sie jetzt und hier wiederzusehen. auch sie lächelte in verschiedene richtungen. dann hatte ich einen kurzen moment zeit, mich zu fragen, ob es ein fehler gewesen sei, den handsignierten schmalen kreislerband in letzter sekunde doch nicht in meine tasche gesteckt zu haben. ich hatte befürchtet, diese geste würde zuviel werden… vielleicht eine gute entscheidung. wie nahe liegen passend und unpassend beieinander? zu passende gaben ersticken dein gegenüber. gaben, begabt, es gibt, vergeben.

die gabe gibt gegenwart.

das lied war zuende und in die noch geweiteten seelen und gehirne der zuhörerschaft, die im ruhigen tempo des dreivierteltakts und ohne schutzhelm innerlich mitgetanzt hatten, prasselte ihr gedankenschnellfeuer und traf das denken dort, wo es verwundbar war: im fühlen…

die zeit dehnte sich, verschlang mich, zog mich hinein in faszinierende gedankenstrudel, ich stürzte in linearitäten, schon über die ersten substantive und verben stolpernd, die sich in rasendem Tempo von ihr aufgefädelt um meine tastenden füße schlangen, noch ehe sie meinen verstand erreichen konnten, mich nun doch wieder am stift festhaltend, in der absicht zusammenhänge zu notieren, verlor ich mitten in den phrasen die satzenden, im versuch, parallel ihrer stimme zu folgen. nun stehen anfänge in meinem heft, die sich nach ihrem ende sehnen… wir sind blind für das medium, das wir gerade benutzen oder hieß es, wir vergessen das medium, das wir gerade benutzen? sie arbeitet in ihrem projekt mit raum und zeit, die schrift versucht die zeit zu bannen und löst linearität aus, topologien und chronologien, die virtuelle dauer des elektronischen... quantenphysik...
götter, namen – die griechische mythologie fehlte auch heute nicht, auch nicht das geben, die gabe - an dieser stelle fasste ich für einen atemzug lang tritt in ihren komprimierten gedanken, war ich in ihrem takt und tempo und konnte zeitgleich ihren satz zuende sprechen: es gibt ein es und es gibt! derrida! wahrscheinlich hatte sie kurz gebremst, um ihre zuhörerschaft aufzulesen. rede und diskurs, langue et parole... später dann fragen aus dem publikum. warum kant, warum nicht lacan: aber ja, ich ist ein anderer, lacan statt kant aber basierend auf freud. viele, viele namen fielen und da ich ihnen seit monaten oder sind es inzwischen endlich jahre? auf der spur bin, fielen wenige davon ins leere. lévi-strauss, jacobson, strukturalismus.
den prozeß der zeitlichkeit sichtbar machen. in welchem verhältnis steht das kulturelle gedächtnis dem historischen gedächtnis gegenüber? "warum gehst du in der geschichte soweit zurück? weil ich auch kulturwissenschaftlerin bin!" die zeit dehnte sich, um all die vielen namen, zusammenhänge und informationen erfassen zu können und einen moment lang im kollektiven gedächtnis des auditoriums schweben zu lassen, bevor sie für nächste gedankensalven aus den schtzngrmm (jandl) der philosophie, ästhetik, linguistik, kunst, mythologie und der feldforschung treffsicher auf uns zu schnellten oder sollte ich besser sagen: in uns eindrangen?
nach 45 minuten faszinierten gefesseltseins befürchtete ich schon, die zeit müsse zuende sein, doch sie war es erst halb, sie dehnte sich und dehnte sich oder war es „am end is ollas umasunst“ nur meine zeit, die sich dehnte, sich gleichsam selbst vergaß bei diesem lang erhofften wiedersehen? sie riß mich in jeder sekunde mit, also ganz anders, als ich das kenne, oft dehnt sich zeit in momenten, die verstreichen sollen, diese momente ließen sich durch schnell aufeinander folgende gedanken verlangsamen und auskosten. welch merkwürdiges geschehen. nach anderthalb stunden hatte ich wirklich den eindruck, wir hätten drei stunden beisammen gesessen und den vereinenden und trennenden gedanken über die sprache von ernst jandl, robert menasse, elfriede jelinek, ingeborg bachmann, paul celan, friederike mayröcker, thomas bernhard, peter handke uva. gelauscht. erkenntnisse, die jenen über das überleben im österreichischen literaturbetrieb platz machten. die gesetze des marktes vs. überlieferung von kultur? und auch die anspielungen, deren verstehen sich kaum jemand anmerken ließ, gesellten sich in meinem kopf zu den von mir eilig aufgeschichteten gedankenstapeln: ja, in dem video wird (zurück)geschossen, auch wenn es nicht 5.45h ist… diese skulpturen stehen nicht weit von der kunstakademie, an der sie adolf nicht angenommen haben, hätten sie bloß, dann wäre uns vieles erspart geblieben…
das tosende publikum jandls in der royal albert hall im youtube-video skandierte 1965 ekstatisch im rhythmus seines meisters mit, selbst das verstand ich als eine unheimliche anspielung, war es eine?
die dargebotenen auszüge aus dem feldtagebuch sind ein literarischer genuss, stundenlang hätte ich ihrem vorlesen zuhören können. vom mund ins ohr. sentire la musica, hören und fühlen zugleich. meine erinnerung gäbe noch einiges her, doch diesen vorläufigen privatbesitz darf nur sie verwalten.
eines nur werde ich noch wiedergeben: es ist möglich, zeitliche verläufe, schleifen und loopings sprachlich festzuhalten, sie hat es vorgeführt im zusammenhang mit dem verweben des jetzt mit der vergangenen gegenwart und im zusammenhang mit der transkription und ihren dimensionen: im vergangenen jetzt, in dem ich das schrieb, werde ich noch nicht gewußt haben, was mir am abend geschehen sein wird, ich werde noch nicht vergessen haben, dass...
dieser vortrag war sehr körperlich, ich spüre noch immer seine berührung mit meinem kopf… es machte mir spaß, es beanspruchte mich aufs äußerste, ich verstand vieles nicht aber einiges dafür besonders gut? der faden, an dem die zeit hängt, spannt die erinnerung ... bildende kunst und wissenschaft befruchten sich nunmal... bist du gut gelandet? ich weiß ja, du weißt ja, ihr wißt ja und jetzt wissen es alle... grüß mir deine künstlerin in wien!

auch wenn der doktorvater einhalt gebietend die bremse und das lenkrad suchte... es war berauschend, ich bin noch im rausch und niemand, niemand sonst schafft es so wie sie. wenn es eine kunst der wissenschaftlichen performanz gibt, sie hat sie voll drauf und ich sinke auf die knie vor ihrer darbietung.

vorsicht, ich weiß, ich möchte nicht nur halb verstehend im rhythmus der meisterin mitskandieren, sondern meinen eigenen weg finden.

mein geist stand danach dennoch wie unter dem schock eines knalltraumas, absolute stille, darin sich entfaltetend der langsame resonanzaufbau des wiedererinnerten. aus erfahrung wird erkenntnis. ich habe mir gewünscht, sie hielte an, diese stille, die die resonanz birgt, niemand sollte mich in den folgenden stunden, auch nicht in denfolgenden tagen ansprechen und diese blase platzen lassen. doch im itzt der nächsten woche, im itzt des folgenden nachmittags: geplatzt.

zwei schwerpunkte werden mich indes nicht loslassen: zum einen das blitzartige „itzt der nacht“, das noch ausführlicher bei hegel nachzulesen wäre, der gedanke an die unaktualität der transskription, der versuch, den verlauf der zeit schriftlich zu fixieren oder zumindest nachvollziehbar zu machen - wie gelingt es, zeit als wahrheit aufs papier zu bannen?
zum anderen: das totmachen der österreichischen und nicht nur der österreichischen mundarten in vor allem deutschen verlagen bzw. verlagen aus deutschland, die sich die hochsprache wünschen, damit sich die literatur besser und zahlreicher verkauft. das identitäre paradoxon.
transportiert nicht die mundart selbst schon inhalte, ihre eigene grundmelodie, so wie ich mir einen text auf berlinerisch nur schwer melancholisch und schwülstig vorstellen kann, so glaube ich, transportiert jede mundart eine eigene grundstimmung, und wie in der übersetzung vom griechischen ins latein unter weglassung der musik, die sprache ihre wurzeln verliert, so geschieht es wohl auch mit der übersetzung der mundarten in hochsprache? ist es nicht so, als würde man dem lied seine melodie entreißen und platt machen?
wäre doch noch einmal ein austausch möglich, was gäb ich drum... vielleicht das itzt der nacht!

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