Montag, 27. Oktober 2008

Abschied

Als ich zum dritten Mal in diesem Raum ankam, abgehetzt, direkt vom Bahnhof, mit noch den selben Klamotten am Leib und dem schweren Rucksack mit meiner Geige, nach einer Unterbrechung von anderthalb Tagen, beschlug meine Brille sofort nach dem Eintreten. Der Ofen bullerte und das Laub vor der Tür hatte geraschelt. Sie saßen alle auf dem Boden und hielten ihre Terminkalender in den Händen, zwischen Tassen, Texten und Decken sitzend. Das Unsichtbarseinwollen gelang mir nicht. Sie unterbrachen ihr Suchen nach einem Wiedersehenstermin und begrüßten mich. Die meisten von ihnen sahen zufrieden und erschöpft aus.
Leise hockte ich mich auf die Stelle, auf der ich stand, mir war klar, daß ich nur noch zum Aufräumen rechtzeitig gekommen war, aber dazu hatte es immerhin gereicht. Ich wollte sie einfach alle noch einmal sehen, die Menschen, die ich nicht genug kennenlernen konnte bei diesem Seminar, in dem sie ihre Gedanken zu Abschied und Trauer miteinander geteilt hatten. Die Zeit, die ich mit ihnen verbracht hatte, war kurz und intensiv. Ein Versprechen, bei einem 60. Geburtstag in einer anderen Stadt für Fröhlichkeit zu sorgen, ließ mich vorzeitig die Gruppe verlassen, ungern und mit Bedauern, aber mit der Gewißheit, daß es die richtige Entscheidung und dieses Versprechen von Bedeutung war.
Ich nahm die Einsicht mit, daß es ein großes Tabu in unserer Kultur ist, über solche Dinge wie Tod, Trennung und innere Leere zu sprechen, daß Trauer ein Quell von großer Kreativität sein kann, daß es Phasen der Verzweiflung, Wut und des Anerkennens gibt, Flucht in Konstruktionen, die die Leerstelle auszufüllen versuchen, und daß sich oft Menschen, die um das Selbe trauern gar nicht unterstützen können, weil sie völlig verschiedene Strategien entwickeln, mit Verlust fertig zu werden, was den Grund zur Trauer oftmals noch erweitert. Aber, man kann sich Menschen suchen, mit denen es gelingt.

Am ersten Tag waren wir aufgefordert Dinge mitzubringen, die uns Kraft geben. Ich habe erfahren, wie gut es tut, endlich in einen freien Raum zu treten, sein Gepäck auszuwickeln – wenn auch nur ansatzweise oder in Portionen, Menschen zuzuhören, deren Thema ein ganz anderes ist, die Angst nachzufragen zu überwinden, die Furcht zu sprechen, weil es zuviel sein könnte, einmal zu ignorieren und bei all den Tränen der anderen und der eigenen zugeschnürten Kehle plötzlich zu lachen, weil es in der Erzählung der Person eine unerwartete Wendung gab, ein Geständnis, eine Unsicherheit, etwas allzu Bekanntes, etwas Widersprüchliches, etwas Lebendiges. Es gab kein Konkurrenzdenken, wer den schlimmeren Verlust erlebt hatte oder auf wen er sich beziehen muß, um Thema zu sein. Manche kamen mit einem diffusen Gefühl oder der Angst vor dem Verlust ihrer selbst, einer Trauer, um den Abschied beraubt worden zu sein, einem Schmerz und einer Ausgelaugtheit über einen schon lange anhaltenden nicht enden wollenden Abschied und seine Begleitung, einer kaum zu ertragenden Isolation, die mit Verlust einhergeht, einer Wunde, einer Lücke, die nicht heilen kann, weil sie nicht an den Rand zu rücken vermag, sondern immer wieder zentral ist, eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen kann, weil sie nicht zu wandern vermag, aus der Wunde in andere Bereiche.

Es gab auch Menschen, die gerade frisch verliebt waren und die sich anfangs gar nicht so recht am Platze fühlten. Sie waren noch da, als ich wieder kam. Interessant fand ich die Benmerkung, daß manche lieber etwas bauen, um Trauer zu verarbeiten, als darüber zu reden, es gibt so viele verschiedene Arten der Bewältigung. Unsere Kultur hat sich ein Schweigen auferlegt, daß nicht gesund macht, sondern einsam. Eigentlich wollte ich der Seminarleiterin noch einmal die Hand geben, mich bedanken und mich verabschieden. Als ich hinter den anderen kniete und meine beschlagene Brille in der Hand hielt, saß sie weit weg im Abseits auf einem Sofa, ihre Hände im Schoß haltend, eine große Ruhe ausstrahlend und lächelte mich an. Ich erwiderte ihr Lächeln etwas verlegen. Während ich mit den anderen aufräumte und mich mit einigen zu einem Kaffee verabredete, bemerkte ich ihr Fortgehen nicht. Aber den freundlichen Blick, dieses „Na, bist du noch einmal zurückgekommen, hast du es noch geschafft!“ werde ich nicht vergessen.

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