Venus

Ich sitze in einem Straßencafé irgendwo schräg unter einer alten stahlvernieteten Hochbahntrasse der Jahrhundertwende. Es muß ein warmer Nachmittag im Früherbst sein, wahrscheinlich in Paris, obwohl ich das Gefühl nicht los werde, ich befinde mich in Amerika. Aber da war ich noch nie. Meine Freunde sind im Café und geben ihre Bestellung auf. Zwei Meter vor mir auf der Straße schieben sich träge die Autos voran. Ich versuche mein Mobiltelefon aus meinem Rucksack zu angeln, um meine Mutter anzurufen. Sie soll wissen, daß es mir gut geht. Sie soll eigentlich noch etwas anderes wissen, doch wie ihr das mitteilen, ohne daß sie sich Sorgen macht? Während ich mit ihr spreche gleitet mein Blick über dieses bunte, leicht verstaubte Treiben vor mir, in das die Sonne ihre Streifen zeichnet und mich blendet, wodurch sich alles für Sekunden in ein Sepia verwandelt. Dann verschwinden die Bilder und ich spüre nur noch die Wärme auf meiner Haut. Meine Gedanken versuchen Formulierungen zu finden, die harmlos und selbstverständlich und wie beiläufig erklären, daß ich in ein paar Stunden eine Reise machen werde. Für heute wollte ich mich verabschieden. Als ich aufgelegt und einen Schluck von meinem Kaffee getrunken hatte, frage ich mich, ob ich es ihr nun eigentlich gesagt habe oder nicht.
Ich werde nachher in den Weltraum fliegen, zusammen mit den Leuten, mit denen ich hier in dieser Stadt bin, bitte mach dir keine Sorgen, es wird sicher alles gut gehen und ich bin bald wieder zurück.

Später im Raumanzug mit eingeschränktem Gesichtsfeld, weiß ich schon gar nicht mehr, wie ich überhaupt an Bord gekommen bin. Ich weiß nur ganz deutlich, daß ich nachher, wenn wir oben sind, als erste zur Erde zurückkehren muß… wegen eines wichtigen Termins. Also wird nicht viel Zeit bleiben zum Staunen und Realisieren.
Ich könnte jetzt natürlich sonst was berichten, wie es da oben aussieht oder von den Farben. Aber ich kann nur von der Angst sprechen, die Verbindung zu meinem Zuhause könnte durch irgendetwas Unbeeinflussbares für immer abbrechen. Zu einem Zuhause, das, je weiter ich mich von der Erde entferne, immer größer wird. Von meiner kleinen Liebe könnte ich erzählen, die plötzlich Vieles umfaßt, die Menschen da unten, die nicht begreifen wollen, daß sie es nur gemeinsam schaffen können, diese kleine dumme kluge Menschheit auf dieser schönen, schönen Welt.
Dieser Ausflug hierher, daß er kurz sein wird, wußte ich ja. Ich sehe noch einmal durch mein rundes Fenster, spüre eine unerklärbare Klarheit, Faszination und Kälte, ich sehe diese Kälte mehr, als daß ich sie spüre, Kristalle von irgendwo… und jetzt wünsche ich mir, ich könnte eine Ansichtskarte schicken zur Erde, ich wüßte schon an wen… allerdings, ich sollte sie vielleicht an jemand anderen schicken, an jemanden, dem ich auch etwas bedeute… aber es gibt hier nirgends Briefkästen, geschweige denn Ansichtskarten, wenn es wenigstens diese gäbe, welches Motiv sollte ich wohl wählen? Die Erde oder mal einen anderen Planeten? Sie soll ja auch eine bezaubernde Nachbarin haben…
Bei diesen Gedanken befinde ich mich schon unterhalb der Wolkendecke. Es ist ganz hell und gleißend, ach ja – richtig – der Schnee. Immer näher kommen die eingeschneiten Bäume und Felder. Es sieht toll aus von oben - je tiefer ich sinke - desto mehr verliert sich das Romantische darin. Ich klatsche neben einer Autobahn in den Schneematsch und wache auf.

Mein Traum fällt mir wieder ein, als ich am Abend nach Hause komme und eine Ansichtskarte in meinem Briefkasten finde. Die Freundin, die in meiner Straße wohnt, und die ich im letzten Jahr nur selten sah, sendete mir gute Wünsche für das Neue. Auf der Rückseite der Karte befindet sich ein wunderschönes Bild der Venus, sie ist blau darauf. Bisher dachte ich immer, sie wäre rot. Ach, ich hätte es doch eigentlich wissen müssen-

wissen können.


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